Olga Martynova

Ein Fenster ins Ungewisse

Künste (und Künstler) entfernen sich voneinander, wissen voneinander immer weniger. Vielleicht hängt das mit der Marginalisierung der Kunst in der Gesellschaft insgesamt zusammen. Wie auch immer, das ist eine traurige Entwicklung. Schriftsteller kennen sich untereinander, Musiker kennen meistens Musiker, und bildende Künstler bleiben unter bildenden Künstlern. Dass Künste sich gegenseitig bereichern und beeinflussen, scheint immer mehr in die Sphäre des Geschichtlichen zu geraten. Natürlich kann zum Beispiel Malerei für zum Beispiel einen Schriftsteller immer noch außerordentlich wichtig sein, aber selten sind das Kunstwerke, die gerade jetzt, vor unseren Augen entstehen. Dass die Bilder von Magdalena West, deren Weg sich gerade vor unser aller Augen ausrollt, mich zum Nachdenken einladen, ist für mich eine sehr wichtige Tatsache. Ich glaube, es ist angemessen, wenn jemand, der über ein Kunstwerk spricht und aus einer anderen Kunst kommt, aus der eigenen speziellen Perspektive heraus spricht. Was ich in einem Bild sehe (ein jedes Ich, ein Betrachter; das „Ich“, das jetzt spricht, ist nur ein Beispiel), kann sehr weit davon entfernt sein, was der Künstler bei seiner Arbeit sah und in seiner Arbeit sieht. Ich werde keinen Versuch unternehmen, mich den Bildern von Magdalena West von der Seite der Kunsttheorie her zu nähern, ich werde darüber sprechen, warum sie für mich wichtig sind, wie ich sie in meiner verbalen Welt unterbringen kann und warum ich das will und kann.
Diese Bilder bewegen sich mit unglaublicher Schnelligkeit. Jedes Bild ist ein großer Vogel, der direkt auf den Betrachter fliegt. Es erfolgt ein Zusammenstoß. Genauer gesagt: Der Betrachter wird von diesem Vogel getroffen und ist damit schon in diesem Bild und fliegt mit. Die Energie dieser Bewegung ist das erste, was ich wahrgenommen habe. Das zweite: In den Bildern von Magdalena West sehe ich vieles, was ich in der Malerei so liebe: Tiepolos Blau; Fra Beato Angelicos Schluchten, in denen der Jordan fließt und Johannes der Täufer mit nackten Beinen im Wasser steht (anstelle dessen ein Vogel aus Papier, oder ein Strahl, oder ein Riss da ist); Bruegels Turm zu Babel, Turners Nebel, Klees gebrochene Engelflügel und vieles andere, was ich erkenne oder unbewusst wahrnehme. Das bedeutet erstens nicht, dass Magdalena West keine selbständigen Bilder produziert, und zweitens nicht, dass sie postmodern zitatfreudig ist. Nein. Das bedeutet etwas, was für mich den besonderen Reiz ihrer Bilder ausmacht, etwas Rätselhaftes: Bei allem, was mir ihr Bilder vorführen, sehe ich, dass sie daraus ihre eigene Sprache geschaffen hat, ich würde ihre Bilder sofort unter allen anderen wiedererkennen. Kommt das nicht immer einem Wunder gleich: Die Geburt einer eigenen Sprache? Magdalena West nimmt sich alle Freiheit der Welt: Sie kombiniert verschiedene Farbarten, verschiedene Techniken, sie überlässt manches dem Zufall, ohne – wie mir scheint – die Kontrolle ganz aufzugeben, und sie besiegelt das Ergebnis mit dem heftigen Kratzen des metallenen Kamms an der bemalten Oberfläche. Die Spuren dieses Kamms scheinen Wege aus der Oberfläche des Bildes in die ideelle Welt zu sein, die hinter jedem Kunstwerk verborgen ist (oder verborgen sein sollte).
Diese blitzartige Bewegung der Formen und Linien und das Hinauf- und Heruntersteigen über die Himmelsleiter der Kunstgeschichte bringt den Atem der Zeit in diese Bilder. Mit der Zeit meine ich nicht die Gegenwart (was für mich ästhetisch ein sehr fragwürdiger Begriff ist), sondern die Zeitliche Dimension, die Paul Klee als für ein Kunstwerk notwendig ansah: „Bewegung liegt allem Werden zugrunde. In Lessings Laokoon, an dem wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von zeitlicher zu räumlicher Kunst gemacht. Und bei genauerem Zusehen ist’s doch nur gelehrter Wahn. Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff.“ Ich kann die Bilder von Magdalena West auch deshalb als zeitlich ansehen, weil hier ständig etwas passiert. Die durch den Willen der Künstlerin zusammengebrachten Formen und ihre Umgebung werden zu handelnden Figuren, die Bilder werden zur Schaubühne für einen leuchtenden Monitor an der Spitze der Jakobsleiter, für eine flatternde Bibliothek im Himmel, für schleichende dämonenhafte Wesen oder für mit ihrer Vieldeutigkeit beunruhigende Dinge, entweder die gigantische Flanke einer Maiskolbe, oder der ganz aus der Nähe betrachtete Panzer eines Krustentieres, oder ein Baumblatt unter dem Mikroskop – das sind visualisierte Metaphern einer Welt, in der alles mit allem verbunden ist.
Der Titel der Ausstellung lautet „Vom Zweck und Nutzen der Löcher“.
Bei der Fülle von Linien, Farben und Figuren, die diese Bilder vorführen, kann man ein Loch als einen Punkt der absoluten Ruhe betrachten, im Sinne der Meditation, einen Versuch, sich vom unendlichen Strom der Bilder zu befreien. Gelangen wir an diesen Nullpunkt der Wahrnehmung, so ist der Zweck des Kunstwerks wahrscheinlich erfüllt: Ähnlich wie hinter der Musik oder besser gesagt als Ergebnis der Musik die absolute Stille erscheint (dasselbe sollte auch nach dem Erklingen eines Gedichtes passieren), sollte das wirkende Ergebnis eines Bildes eine Leere sein, eine weiße Farbe, die alle Farben enthält. 
Zum anderen können wir ein Loch als etwas betrachten, das ein Rätsel verbirgt. Es gibt keine Kunst ohne Rätsel. Auch der Künstler kann über sein Werk nicht alles wissen. Das einzigartige Zusammenspiel von Figurativem und Nonfigurativem in Magdalena Wests Bildern führt dazu, dass sich Gegenstände oder Wesen, die wir hier erkennen, von ihrer gewöhnlichen Umgebung trennen, sodass die Welt neu gemischt wird. Das ist eine Variation der Schöpfung, ein Traum. Die Großzügigkeit der Flächen und Farben, die vielen Zwischenräume (auch eben Löcher), die Abwandlungen derselben Motive innerhalb eines Bildes erlauben uns vieles selbst zu bestimmen, wir werden zum Schöpfer des Traums, den wir hier träumen. Der Betrachter wird somit zu einer sehr aktiven, selbstbestimmenden Wahrnehmung eingeladen. Aber er bleibt dabei in der von der Künstlerin erschaffenen Welt, in ihren rätselhaften und stark wirkenden Landschaften, mit überraschenden Lichtquellen und fliegenden Schatten.
 „Ein geflickter Strumpf <ist> besser als ein zerrissener; nicht so das Selbstbewusstsein“, hat Hegel gesagt. Das Selbstbewusstsein eines Philosophen also braucht Risse und Löcher. Wenden wir diesen Spruch auf die Kunst an: „Ein geflickter Strumpf <ist> besser als ein zerrissener; nicht so das Kunstwerk.“ Die Zerrissenheit eines Kunstwerks springt im Idealfall nicht ins Auge (was beim Strumpf kaum möglich ist). Aber sie kann in verschiedenem Maße spürbar sein. Mich interessieren solche Kunstwerke, die dank der Kunstfertigkeit ihrer Urheber keine offensichtlichen Risse und Löcher aufweisen, in denen ich diese Zerrissenheit jedoch ahnen kann. Zu solchen Kunstwerken gehören Magdalena Wests Bilder. Der Titel der Ausstellung bestätigt mir, dass Risse und Löcher hier eine Rolle spielen.
Mich interessiert auch das Verhältnis der Kunst und der Wirklichkeit, genauer gesagt, mich interessiert, wie dieses Verhältnis heute ist, nachdem das 20. Jahrhundert Graphik wie Malerei von allen mimetischen Aufgaben befreit hat. Ich glaube, es gibt Freiheiten, die zu benutzen man nicht in der Lage ist (auch sonst in der Kunst und im Leben).
Kann man das, was Wittgenstein über das gedankliche Bild gesagt hat, auf das Bild der visuellen Kunst übertragen? „Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen. Aus dem Bild allein ist nicht zu erkennen, ob es wahr oder falsch ist. Ein a priori wahres Bild gibt es nicht.“ Diese hypnotisierende Logik, die überwältigend schön ist, wenn man an die Möglichkeiten denkt, die Welt zu verstehen, tritt zurück, wenn man an ein Kunstwerk denkt, dessen innere Wahrheit immer primär ist: Aus dem Bild ist zu erkennen, ob es wahr oder falsch ist. Die Wirklichkeit hat das wahre Bild in die Welt aufzunehmen. Auf diesem Weg bestimmt das Bild die Wirklichkeit. Das Bild, das seine innere Wahrheit hat, ist, es wird zu Wirklichkeit.
Andererseits hat jede Kunst mit der Wirklichkeit zu tun, wie sie sich auch bemüht, sich von ihr zu befreien. Bekanntlich gibt es grundsätzlich nichts, was rein imaginärer Natur wäre. Man hat alle Freiheit, sich etwas Nie-Dagewesenes vorzustellen, und kann das einfach nicht. Alles, was wir uns vorstellen können, besteht aus Elementen des Bekannten, wie zum Beispiel jedes Fabeltier aus den Teilen realer Tiere besteht. Auch rein abstrakte Formen sind nur Bruchstücke von irgendetwas, was man gesehen hat. Auch in den Kunstwerken, deren Entstehen Künstler dem Zufall überlassen (denken wir an Action Painting), wird das menschliche Auge das erkennen, was ihm aus der früheren Erfahrung bekannt  ist. Die Psychologen behaupten, dass wir alles, was wir träumen, schon einmal gesehen haben, dass wir zum Beispiel kein ungesehenes Gesicht träumen können. Man kann sagen, dass das Gedächtnis ein Gefängnis ist, ein geschlossener Raum. Aber das Gedächtnis ist auch die eigentliche Quelle der Kunst, nicht umsonst ist die Mutter der Musen die Göttin der Erinnerung, Mnemosyne. Wie Künstler mit ihrem Gedächtnis umgehen, ist stilbildend, vielleicht ist das jedes Mal ein Versuch, aus diesem geschlossenen Raum zu fliehen, aber alles, was erlebt und gesehen wurde, mitzunehmen. Ein künstlerischer Akt ist ein Sprung ins Ungewisse (das gilt für den Künstler). Ein gelungenes Kunstwerk ist das Fenster ins Ungewisse (das gilt für den Betrachter). Ich glaube, dass jedes Bild von Magdalena West so ein Sprung und so ein Fenster ist.

© Olga Martynova 2014

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